dadaistisches manifest - Richard Huelsenbeck
Die Kunst ist in ihrer Ausführung und Richtung von der Zeit abhängig,
in der sie lebt, und die Künstler sind Kreaturen ihrer Epoche.
Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren, Bewußtseinsinhalten die
tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, daß sie
sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder
immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht. Die besten
und enerhörtesten Künstler werden diejenigen sein, die stündlich
die Fetzen ihrer Leibes aus dem Wirrsal der Lebenskatarakte
zusammenreißen, verbissen in den Intellekt der Zeit, blutend an
Händen und Herzen.
Hat der Expressionismus unsere Erwartungen auf eine solche Kunst Kunst erfüllt,
die eine Ballotage unserer vitalsten Angelegenheiten ist?
Nein! Nein! Nein!
Haben die Expressionisten unsere Erwartungen auf eine Kunst erfüllt, die uns die
Essenz des Lebens ins Fleisch brennt?
Nein! Nein! Nein!
Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten in der Literatur
und in der Malerei zu einer Generation zusammengeschlosses, die heute schon
sehnsüchtig ihre literatur- und kunsthistorische Würdigung erwartet und für
eine ehrenvolle Bürger-Anerkennung kandidiert. Unter dem Vorwand, die Seele zu
propagieren, haben sie sich im Kampfe gegen den Naturalismus zu den abstrakt-pathetischen
Gesten zurückgefunden, die ein inhaltloses, bequemes und unbewegtes Leben zur
Voraussetzung haben. Die Bühnen füllen sich mit Königen Dichtern und
faustischen Naturen jeder Art, die Theorie einer Melioristischen Weltauffassung, deren
kindliche, psychologisch-naivste Manier für eine kritische Ergänzung des
Expressionismus signifikant bleiben muß, durchgeistert die tantenlosen Köpfe.
Der Haß gegen die Presse, der Haß gegen die Reklame, der Haß gegen
die Sensation spricht für Menschen, denen ihr Sessel wichtiger ist als der Lärm
der Straße und die sich einen Vorzug daraus machen, von jedem Winkelschieber
übertölpelt zu werden. Jener sentimentale Widerstand gegen die Zei, die nicht
besser und nicht schlechter, nicht reaktionärer und nicht revolutionärer als alle
anderen Zeiten ist, jene matte Opposition, die nach Gebeten und Weihrauch schielt, wenn sie
es nicht vorzieht, aus attischen Jamben ihre Pappgeschosse zu machen - sie sind
Eigenschaften einer Jugend, die es niemals verstanden hat, jung zu sein. Der Expressionismus,
der im Ausland gefunden, in Deutschland nach beliebter Manier eine fette Idylle und Erwartung
guter Pension geworden ist, hat mit dem Streben tätiger Menschen nichts mehr zu tun.
Der Unterzeichner dieses Manifests haben sich unter dem Streitruf
DADA!!!!
zur Propaganda einer Kunst gesammelt, von der sie die Verwirklichung neuer Ideale erwarten.
Was ist nun der DADAISMUS?
Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit
dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein
simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische
Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche
und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. Hier ist der scharf
markierte Scheideweg, der den Dadaismus von allen bisherigen Kunstrichtungen und vor allem
von dem FUTURISMUS trennt, den kürzlich schwachköpfe als eine neue Auflage
impressionistischer Realisierung aufgefaßt haben. Der Dadaismus steht zum erstenmal dem
Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur
und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile
zerfetzt.
Das BRUITISTISCHE Gedicht
schildert eine Trambahn, wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers
Schulze und dem Schrei der Bremsen.
Das SIMULTANISTISCHE Gedicht
lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt
der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des
Schlächters Nuttke.
Das STATISCHE Gedicht
macht die Worte zu Individuen, aus den drei Buchstaben Wald tritt der Wald mit seinen Baumkronen,
Försterlivreen und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus, vielleicht Bellevue
oder Bella vista. Der Dadaismus führt zu unerhörten neuen Möglichkeiten und
Ausdrucksformen aller Künste. Er hat den Kubismus zum Tanz auf der Bühne gemacht, er
hat die BRUITISTISCHE Musik der Futuristen (deren rein italienische Angelegenheit er nicht
verallgemeinen will) in allen Ländern Europas propagiert. Das Wort Dada weist zugleich auf
die Internationalität der Bewegung, die an keine Grenzen, Religionen oder Berufe gebunden
ist. Dada ist der internationale Ausdruck dieser Zeit, die große Fronde der
Kunstbewegungen, der künstlerische Reflex aller dieser Offensiven, Friedenskongresse,
Balgereien am Gemüsemarkt, Soupers im Esplanade etc. etc. Dada will die Benutzung des
neuen Materials in der Malerei.
Dada is ein CLUB, der in Berlin gegründet worden ist, in den man eintreten kann,
ohne Verbindlichkeiten zu übernehmen. Hier ist jeder Vorsitzender, und jeder kann sein
Wort abgeben, wo es sich um künstlerische Dinge handelt. Dada ist nicht ein Vorwand
für den ehrgeiz einiger Literaten (wie unsere Feinde glauben machen möchten), Dada
ist eine Geistesart, die sich in jedem Gespräch offenbaren kann, so daß man sagen
muß: Dieser ist ein DADAIST - jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen
Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann unter
Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein - nur
zufällig Künstler sein - Dadaist sein heißt, sich von den Dingen werfen lassen,
gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl gesessen, heißt, das Leben
in Gefahr gebracht haben (Mr. Wengs zog schon den Revolver aus der Hosentasche). Ein Gewebe
zerreißt sich unter der Hand, man sagt ja zu einem Leben, das durch Verneinung höher
will. Jasagen - Neinsagen: das gewaltige Hokuspokus des Daseins beschwingt die Nerven des
echten Dadaisten - so liegt er, so jagt er, so radelt er - halb Pantagruel, halb Franziskus und
lacht und lacht. Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion
des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für
den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. Gegen dies
Manifest sein heißt Dadaist sein!
Tristan Tzara. Franz Jung. George Grosz. Marcel Janco. Richard Huelsenbeck. Gerhard
Preiß. Raoul Hausmann.
O. Lüthe. Frédéric Glauser. Hugo Ball. Pierre Albert Birot. Maria d'Arezzo.
Gino Cantarelli. Prampolini. R. van Rees. Madame van Rees. Hans Arp. G. Thäuber.
Andrée Morosini. François Mombello-Pasquati.